Energiemarkt Türkei - Ilisu Staudamm ein Konflikprojekt Geschrieben am Mittwoch, 07. Februar 2007 von firmenpresse Mit der Übernahme der VA Tech Hydro wird Ilisu auch in Deutschland wieder zum Politikum werden. Schon vor drei Jahren war heftig darum gestritten worden, ob eine Hermesbürgschaft für das Projekt erteilt werden soll.

(Saydam.de) Raif Özalan Hamburg - Der Ilısu-Staudamm, ein Teil des türkischen Südostanatolien-Projekts, ist ein geplantes Wasserkraftwerk am Fluss Tigris im Südosten des Landes. Nachdem ein erster Anlauf nach heftigem internationalen Protest im Jahr 2002 gescheitert ist, ist das Projekt 2005 neu lanciert worden. Mit dem Bau ist am 5. August 2006 begonnen worden.

Das Projekt
Der Tigris soll mit einem 1820 m breiten und 135 m hohen Erddamm gestaut werden. Dadurch entsteht ein mehr als 300 km² großer Stausee mit einem Volumen von 10.400 Millionen Kubikmetern. Das Wasser soll nicht in erster Linie zu Bewässerungszwecken, sondern primär zur Stromproduktion genutzt werden. Vorgesehen ist der Bau eines Spitzenlast-Kraftwerks mit einer Leistung von 1200 Megawatt aus sechs Francis-Turbinen, was etwa drei Prozent der türkischen Stromerzeugung ausmachen würde. Die Baukosten werden auf rund 1,2 Milliarden Euro veranschlagt. Der Standort des geplanten Staudammes liegt in Südostanatolien rund 65 km stromaufwärts von der syrischen Grenze in einem von kurdischen Türken bewohnten Gebiet. Die Türkei rechnet mit einer Inbetriebnahme für 2012/13.

Nutzen
Durch die Entwicklungsschübe steigt auch in der Türkei der Bedarf an elektrischem Strom. Durch die Investitionen in die Wasserkraft wird die Türkei unabhängiger von Erdöllieferanten und kann den Ausstoß von Treibhausgasen reduzieren. Als Nebeneffekt können saisonale Schwankungen des Tigris-Pegelstandes ausgeglichen werden, womit Überschwemmungen und Dürren vorgebeugt werden kann. Das Projekt ist Teil des Südostanatolien-Projekts, eines gigantischen Entwicklungsplans, der auch die wirtschaftliche Entwicklung Südostanatoliens ankurbeln soll. Es wird argumentiert, dass dadurch für die ortsansässige kurdischstämmige Bevölkerung Arbeitsplätze geschaffen werden und diese so am Aufschwung der Türkei teilhaben lässt, was anti-türkischen Bestrebungen den Nährboden entziehen kann.

Das Südostanatolien-Projekt (GAP)

Prominentes Beispiel einer gefährlichen und verfehlten Staudammpolitik ist das bereits in den 70er Jahren von der türkischen Regierung in Angriff genommene Südostanatolien-Projekt, weithin bekannt unter seinem Acronym GAP (Güneydogu Anadolu Projesi). Durch 22 Staudämme, 19 Hydroelektrizitätswerke und zum Ausbau einer exportorientierten Agrarproduktion auf 1,7 Mio. Hektar Land soll das Wasser des Euphrat und Tigris in wirtschaftlichen und politischen Profit umgewandelt werden. Der türkische Staat baut mit dem Megaprojekt nicht nur seine Energie- und Wasserressourcen, sondern auch seine Präsenz im mehrheitlich von Kurden bewohnten Südosten aus. Gleichzeitig ist das GAP ein wichtiges machtpolitisches Instrument gegenüber den arabischen Nachbarstaaten. In den 90er Jahren wurde das GAP auch um Vorhaben im sozialen Bereich erweitert. Doch weder die initiierte sozialpolitische Neuorientierung, noch der neuerdings verstärkte Bezug auf nachhaltige Entwicklungsziele kann die katastrophalen Auswirkungen des Projektes verdecken.

Soziale Folgen

Schätzungsweise werden insgesamt einige Hunderttausende Menschen von Umsiedlungen betroffen sein. Allein im Überflutungsgebiet des Atatürk-Stausees mussten insgesamt 100 000 Menschen aus 144 Ortschaften ihre Häuser verlassen. Die Menschen werden durch das GAP ihrer intakten Dorfstrukturen sowie sozialen und kulturellen Identität beraubt. Viele wurden nicht konsultiert und kompensiert. Vor allem die landlosen Bauern bekommen oft keine Entschädigung, da sie als Pächter und Landarbeiter kein Land und somit auch kein Recht darauf besitzen. Nur wenige Bewohner der Region sind als Besitzer neuer Plantagen in den bewässerten Gebieten zu dem versprochenen Wohlstand gekommen. Die Mehrheit der vertriebenen Menschen endet in den Slums der Großstädte oder in den unfruchtbaren Hochebenen, ohne Einkommensmöglichkeiten und in miserablen Unterkünften.

Ökologische Folgen

Erosionen, Schimmelkrankheiten bei den in Monokulturen angebauten Pflanzen, die Bodenversalzung, das durch Abwässer und Pestizide verschmutzte Wasser zeigen deutlich, dass ökologische Bedenken im Rahmen des GAP außer Acht gelassen wurden. Geplant ist je etwa 50 Prozent der 750 Kilometer Fliessstrecke des Euphrat und 325 Kilometer des Tigris in Standgewässer umzuwandeln. Von den sechs bereits schon gebauten Stau-dämmen bilden allein die Keban- , Karakaya-, Atatürkstauseen ein künstliches 500 Kilometer langes Meer. Eine Folge ist, dass die vom Flusssystem abhängigen Tier -und Pflanzenarten aussterben. In den Standgewässern entstehen außerdem ideale Nährstoffverhältnisse für Malariamücken und Bilharziose Überträger, die Ursache für das Auftreten von Tropenkrankheiten in dieser Region. Die bereits starke Dezimierung und Degradierung der Vegetation im Südosten wird durch den Bau der Stauseen und die Verstädterung vorangetrieben. Die fruchtbarsten Äcker am Flusslauf werden zugunsten der Entwicklung einer auf schnelles und kurzes Wachstum bauenden Agroindustrie überflutet.

Zerstörung von Kulturdenkmälern

Hunderte von verschiedenen bedeutsamen historischen Stätten fallen in das Einzugsgebiet des GAP. Diese Kulturgüter der Menschheit sind durch Überflutungen, Baumaßnahmen oder Bewässerungsarbeiten gefährdet oder bereits zerstört worden. Das gleiche Schicksal, wie so viele antike Stätten vor ihr, erwartet die seit über 10000 Jahren besiedelte und von Archäologen als "lebendes Museum" bezeichnete Stadt Hasankeyf . Diese Stadt am Tigris, deren historische und archäologische Bedeutung noch weitgehend unerforscht ist, soll im Ilisu-Stausee untergehen.

Zündstoff in Nahost

Für die südlichen Nachbarstaaten Syrien und Irak hat jegliche Verknappung und Verschmutzung der Wasserzufuhr weitreichende Konsequenzen. Die Türkei hat beide Länder im Planungsprozess nicht konsultiert. Nach internationalem Recht sind die detaillierte Vorab-Information und Konsultation flussabwärts gelegener Staaten aber grundlegende Prinzipien für Projekte an grenzüberschreitenden Flüssen. Begründend auf dem Prinzip der absoluten territorialen Souveränität betrachtet sich die Türkei jedoch als Eigentümer der Quellen und jede Art von Rücksichtnahme auf andere Länder werden als freiwillige Zugeständnisse betrachtet. Aufgrund des außenpolitischen Konfliktpotentials lehnte die Weltbank eine Beteiligung am GAP bereits 1984 ab.

Deutsche Beteiligung am Ilisu-Staudammprojekt

Trotz der desaströsen Auswirkungen der Staudämme wird am Bau eines neuen festgehalten. Der geplante Ilisustaudamm soll allen Superlativen der Entwicklungsmanie das Wasser reichen und am Tigris 65 Kilometer vor der Grenze zum Irak ein Gebiet von 313 km² überschwemmen und damit mindestens 52 Dörfer und 15 Kleinstädte in den Fluten begraben. Bereits vor drei Jahren wurde das Ilisu-Staudammprojekt zu den Akten gelegt. Die erzwungene Umsiedlung von bis zu 78.000 Menschen, sowie die Überflutung der antiken Stadt Hasankeyf, einer der ältesten bewohnten Orte der Erde, waren ungelöste Probleme. Wegen wirtschaftlicher, ökologischer und sozialer Bedenken hatten sich 2002 alle beteiligten Firmen und die jeweiligen Exportkreditagenturen aus dem Skandalprojekt zurückgezogen. Einzig der österreichische Konzern VA Tech hält bis heute daran fest. Siemens hat im Februar 2005 die Firma komplett übernommen: Neben der Abschreibung der Schulden des Unternehmens als Verlustvorträge, übernimmt Siemens damit auch den Bau des Ilisu-Staudamms. Mit der Übernahme der VA Tech Hydro wird Ilisu auch in Deutschland wieder zum Politikum werden. Schon vor drei Jahren war heftig darum gestritten worden, ob eine Hermesbürgschaft für das Projekt erteilt werden soll.

Kritik
Wie beim ersten Anlauf des Projektes wird auch beim neuen Projekt von vielen NGOs und auch von staatlicher Seite lautstark Kritik geübt.

Im zur Überflutung vorgesehenen Gebiet wohnen heute 11.000 Menschen, die umgesiedelt werden müssen. Für sie sind neue Siedlungen und finanzielle Entschädigungen vorgesehen. Insgesamt werden 620 Millionen US-Dollar für Enteignungsfälle und 210 Millionen US-Dollar für Umsiedlungen und neue Infrastrukturen aufgewendet. 32.000 Menschen werden zwar nicht umgesiedelt, sind jedoch durch den Verlust von Landbesitz betroffen. Sie werden entschädigt, ebenso die 11.500 Personen, die nicht mehr in der Region leben, aber noch Land besitzen. Im Gegensatz zur früheren Planung sollen nun auch Landlose nach klaren gesetzlichen Vorgaben entschädigt werden.

Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, dass der Kurdenkonflikt in der Türkei weiterhin nicht beigelegt ist. Die Massenumsiedlung würde also in einem Konfliktgebiet stattfinden. Eine Mitsprache der lokalen Bevölkerung gibt es kaum, und es ist unklar, ob sie langfristig vom Projekt profitieren kann.

Ein weiterer Kritikpunkt ist die Zerstörung der Baudenkmäler in der antiken und mittelalterlichen Stadt Hasankeyf, die überflutet wird. Mit 100 Millionen Euro sollen die wichtigsten von ihnen in einen archäologischen Park disloziert werden.

Auf die Befürchtungen, der Stausee werde durch die Zuführung von ungereinigtem Abwasser zu einer gesundheitlichen Gefahr, wird mit dem Bau von Abwasserreinigungsanlagen reagiert.

Mit Syrien und dem Irak droht ein Wasserkonflikt, da diese Staaten darauf angewiesen sind, dass die Türkei kein Wasser abzweigt und die Mindestwassermenge einhält. Obwohl bis heute erst Teile des Südostanatolienprojekts realisiert worden sind, fliesst das Wasser besonders in wasserarmen Jahren viel spärlicher. Die Türkei stellt sich auf den Standpunkt, dass das Wasser ihr gehört. Dies könnte katastrophale Auswirkungen für die Bauern im Irak und in Syrien haben. Der Irak kann nur 40 Prozent des Bedarfs aus eigenen Wasservorkommen decken

Reaktionen
Menschenrechtsaktivisten, Umweltschützer und Politiker forderten am Freitag die Bundesregierung dazu auf, keine Hermesbürgschaft für den "hoch kontroversen" Ilisu-Staudamm in der Südosttürkei zu vergeben. Vertreibung, Umwelt- und Kulturzerstörung sowie eine Verschärfung des Wasserkonflikts in Nahost wären nach Auffassung der Kritiker Folgen des Projekts. Nach Darstellung der globalisierungskritischen Organisation Weltwirtschaft, Ökologie und Entwicklung (WEED) soll die Bundesregierung im vergangenen Dezember dem deutschen Bauunternehmen Züblin mit einer "Grundsatzzusage" signalisiert haben, das Vorhaben unterstützen zu wollen. Mit dieser Zusage seien Auflagen verknüpft, die das Projekt mit internationalen Standards in Einklang bringen sollen. Wie diese Auflagen aber konkret aussähen, hält die Regierung laut WEED geheim.

WEED: Erst Bürgschaftsentscheidung - dann Studien über die Folgen

Zudem würden zahlreiche seltene Tierarten ihren Lebensraum verlieren, ohne dass dies bisher umfassend untersucht oder Ausgleichsmaßnahmen konzipiert worden seien. Zwar müssten den Auflagen der Bundesregierung entsprechend weitere Studien über die Umweltauswirkungen erstellt werden. Aber: Nach Darstellung von WEED müssen diese "nicht vor der endgültigen Bürgschaftsentscheidung vorgelegt werden".

Bisher sei zudem nicht bekannt, wohin die 55.000 betroffenen Menschen umgesiedelt werden und "wovon sie dort ihren Lebensunterhalt bestreiten sollen". Es sei zu befürchten, dass der größte Teil von ihnen ein Leben in Armut führen werde. "Dies würde die sozialen Spannungen im Südosten des Landes, in dem es erst im März 2006 zu massiven Auseinandersetzungen zwischen der überwiegend kurdischen Bevölkerung und Sicherheitskräften kam, weiter verschärfen."

Ayboga: Praktisch niemand vor Ort befürwortet das Projekt

"55.000 Menschen vor Ort fordern Mitsprachemöglichkeiten über ihr weiteres Schicksal", sagte Ercan Ayboga von der Bürgerinitiative gegen den Staudammbau aus der überwiegend kurdisch besiedelten Südosttürkei am Freitag in Berlin. "Die Bundesregierung darf ihre Rechte nicht mit Füßen treten." Praktisch niemand vor Ort befürworte das Projekt.

"Als Umwelt- und Menschenrechtsorganisationen lassen wir uns nicht mit nicht nachprüfbaren Versprechungen ruhig stellen", sagte WEED-Mitarbeiterin Heike Drillisch. "Die Auflagen müssen umgehend veröffentlicht werden."


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